Nur die Härtesten setzen sich durch!

SSV Gera / Presse

29. Jul 2014

André Greipel gewinnt 6. Tour-Etappe  (Foto: rad-net)
André Greipel gewinnt 6. Tour-Etappe (Foto: rad-net)

Tour de France, Tour d’ Allemagne: sieben deutsche Etappensiege, ein deutsches Sommermärchen.

Nicht rundes Leder, sondern rasende Räder: Während die deutschen Fußball-Stars einen Sieg nach dem anderen feierten, startete am 5. Juli in Leeds die 101. Auflage der Tour de France. In der Auftaktwoche dominierten zwei deutsche Fahrer das Feld und haben die Frankreich-Rundfahrt in eine „Tour d’Allemagne“ verwandelt. Erst gelangen dem Hünen Marcel Kittel gleich drei Siege in vier Tagen, dann sprintete das Muskelpaket André Greipel seinen insgesamt sechsten Etappen­sieg nach Hause. Marcel Kittel sorgte dann mit seinem Sieg auf der Champs-Élysées, einen Tag nach dem Zeitfahr-Triumph von Tony Martin, für den krönenden Tour-Abschluss.

Kittel, Martin, Greipel, Degenkolb und Co. schafften, was bisher noch keiner geschafft hatte. Mit sieben Etappensiegen über­trafen sie die Rekorde von sechs Etappensiegen aus den Jahren 1977 und 2013. Pedalritter der Straße, die in Thüringen das Radsport-ABC erlernt oder sich sportlich entwickelt hatten, begannen zu Beginn des zweiten Jahrhunderts der „Tour der Leiden“ Radsportgeschichte zu schreiben.

Das offizielle Buch zu 100. Jahre Tour de France liegt vor. Nun gilt es an den weiter folgenden Jahren zu arbeiten. Den Anfang haben die deutschen Jungs gemacht. Sie haben der 101. Tour ihren Stempel aufgedrückt und für ein wirklich echtes „Sommer­märchen“ in und für Deutschland gesorgt.

Im Jubel der Erfolge sollte es auch Spaß machen, einen Blick in die Vergangenheit, in die Geschichte der Tour de France zu werfen. Das offizielle Buch zur 100. Tour de France bietet dazu ausreichend Gelegenheit.

Die Frankreich-Rundfahrt ist das größte jährlich stattfindende Sportereignis. Anlässlich der Jubiläumsausgabe im ver­gange­nen Jahr erklärte Tourdirektor Christian Prudhomme stolz, das dreiwöchige Spektakel werde in 190 Ländern übertragen und von 3,5 Milliarden Fernsehzuschauern verfolgt. Das liegt neben der langen Geschichte und der sportlichen Rivalität auch daran, daß die Tour de France mehr ist als nur ein Radrennen. „Sie richtet sich ans kollektive Bewußtsein, schafft kulturelle Referenzen und geht weit über das sportliche Interesse hinaus. Sie spielt mit der Geographie und mit dem Territorium“, kon­sta­tierte der französische Historiker und Soziologe Georges Vigarello.

Die Tour entstand aus einem Marketingkniff

Dabei war die Tour de France aus der Not heraus geboren. Henri Desgrange, Herausgeber der Sportzeitung L’Auto, annon­cierte zur Auflagensteigerung im Jahr 1903 ein Rad­ren­nen, das durch ganz Frankreich führen sollte. Für die Fahrer galt es, 2.500 Kilometer in sechs Tagesabschnitten zu be­wäl­ti­gen. Die rund 400 Kilometer langen Etappen führten über schlecht gepflasterte Straßen und dauerten oft bis in die Nacht. Während Kritiker in Henri Desgrange einen Verrückten oder gar Sadisten sahen, stieß die Rundfahrt bei den Zuschauern auf großes Interesse. Noch während des Rennens stieg die Auflage seiner Zeitung von 20.000 auf 65.000 Exemplare.

In Paris warteten Zehntausende auf die Ankunft der Sportler. Henri Desgrange kreierte damit nicht nur das wichtigste Rad­rennen der Welt, sondern, so Michael Klonovsky, „schuf vor allem das größte Leidensfestival, das die Welt des modernen Athletentums zu bieten hat“.

Leiden als Entfaltung der Willenskraft

Es ist die absonderliche Fähigkeit der Profis, sich über Wochen mehrere Stunden am Tag Schmerzen zuzufügen, die täglich Hunderttausende an die Strecke lockt. Und das im „schönsten Stadion“ der Welt. Eine Bergankunft in den Vogesen, Pyrenäen oder Alpen ist das Härteste, was die moderne Sportwelt zu bieten hat. Festina-Mannschaftsarzt Eric Ryckaert hielt 1998 fest: „Nach einer Bergetappe sind die Fahrer am Ziel dermaßen erschöpft, daß sie im medizinischen Sinne krank sind.

Als der spätere Sieger von 1905, Louis Trousselier, während einer harten Bergetappe den Tour-Vater Henri Desgrange übel beschimpfte, antwortete der ihm aus seinem Begleitfahrzeug: „Leiden, Trousselier, ist die vollständige Entfaltung der Willens­kraft. Beweisen Sie, daß Sie ein Mann sind!“ Auch dieses Jahr wird nach 3.663 Kilometern „Wettbewerbs im sinnlosen Leiden“ (Lance Armstrong) der Mann mit der größten Leidensfähigkeit herausdestilliert werden.

In Deutschland rümpft man derzeit allerdings die Nase, wenn von der „Tour der Leiden“ gesprochen wird. Nach den größten Dopingskandalen in der Sportgeschichte stellte das öffentlich-rechtliche Fernsehen 2007 die Direktübertragung ein. Ein rein deutsches Phänomen. Angesichts der deutschen Erfolge wird beim öffentlich rechtlichen Fernsehen darüber nachgedacht, die Tour de France wieder ins Programm aufzunehmen. Womit die Gebühren, gemessen an zahlreichen bildungsfernen, hoch­dotierten und oft auch verfälschten Produktionen, einer sinnvollen Verwendung zugeführt würden.

Betrogen wurde indes von Anfang an: Fahrer stiegen in Züge ein oder ließen sich von Begleitfahrzeugen ziehen. Noch bis in die sechziger Jahre hinein betäubten die Pedaleure ihre Schmerzen mit Cognac und Champagner, bis sich schließlich die Erkenntnis durchsetzte, daß man nüchtern doch etwas schneller fahre.

Die Methoden des Betrugs änderten sich, eines blieb allerdings über all die Jahre konstant: die Qual der Teilnehmer. Unver­gess­lich bleibt der Kampf Pascal Simons, der 1983 mit einem gebrochenen Schulterblatt noch eine Woche lang das maillot jaune verteidigte, ehe er mit schmerzverzerrtem Gesicht und tränenden Augen aufgeben mußte.

Ebenso imposant Johnny Hoogerland, der 2011 mit einer zer­fetz­ten Wade ins Ziel fuhr, nachdem ihn ein Begleitfahrzeug in einen Stacheldrahtzaun rammte. Die Schnitte mussten mit 33 Stichen genäht werden. Am 27. Juli sind die Könige des Sattels abermals auf dem Pariser Champs-Élysées angekommen und tragen fortan ein Übermenschen-Zertifikat. (rs)

Tour de France 2014 >>

«2014»
OTZ Gera / Marcus Schulze, 27. Sep 2014 Domenik Wolf vom SSV Gera 1990: Im Rausch der Geschwindigkeit.
SSV Gera / Presse, 29. Jul 2014 Nur die Härtesten setzen sich durch!
OTZ Gera / Marcus Schulze, 23. Jun 2014 Tollkühne Männer auf knatternden Kisten in Gera.
nach oben